Frankfurter Rundschau | 07.08.2023 | Politik
Im August 2020 erschütterte eine tödliche Explosion Beirut. Angehörige kämpfen seither vergeblich um Aufklärung – während die Eliten den Libanon weiter in den Abgrund treiben.
Ein Datum, das für Trauma, Leid und Tod steht: Jedes Jahr lässt der 4. August die Trauer im Libanon wieder aufleben. An diesem Tag im Jahr 2020, um 18.07 Uhr, verwüstete die größte nicht-nukleare Explosion der Geschichte den Hafen von Beirut und die umliegenden Viertel, wobei mindestens 207 Menschen getötet, 6500 verletzt wurden und 300 000 ihre Häuser verlassen mussten. „Wie bei jedem Todesfall empfinden wir Trauer – aber in diesem Fall auch eine ungeheure Wut“, sagt Cécile Roukoz, die Schwester von Joseph Roukoz, einem Angestellten eines großen Hafenunternehmens, der bei der Explosion getötet wurde. Ein Vorrat von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat, der seit sieben Jahren in einem Hangar im Hafen gelagert worden war, hatte vermutlich Feuer gefangen – was zu zwei massiven Explosionen führte.
Seitdem kämpfen die Familien der Opfer für Gerechtigkeit – und landen manchmal selbst auf der Anklagebank. „Wir haben viel Gewalt und Anklagen von den Sicherheitskräften erlebt, während die Täter auf freiem Fuß sind. Das ist absurd“, empört sich Frau Roukoz. Als Anwältin verfolgt sie die Ermittlungen des mit der Untersuchung beauftragten Richters Tarek Bitar mit großer Aufmerksamkeit. Nachdem er zahlreiche Politiker und Militärs angeklagt und inhaftiert hatte, wurden seine Bemühungen von Generalstaatsanwalt Ghassan Oueidat blockiert, der selbst der Familie eines angeklagten Parlamentariers nahesteht. „Der Libanon ist das erste Opfer dieses Krieges zwischen den Justizbehörden, bei dem ein Teil der Justiz, des Staates und der politischen Parteien eine Allianz bilden, um Ermittlungen zu blockieren“, kritisiert Roukoz.
Libanon: „Unsere einzige Hoffnung liegt derzeit bei den Vereinten Nationen“
Die Hisbollah und ihre Verbündete Amal, zwei konservative politische Bewegungen, werden beschuldigt, das Ammoniumnitrat gelagert zu haben und von dort aus das syrische Regime von Baschar al-Assad, mit Bomben zu beliefern.
Auch die zahlreichen internationalen Untersuchungen, die eingeleitet wurden, stoßen auf Hindernisse. „Unsere einzige Hoffnung liegt derzeit bei den Vereinten Nationen. Wir werden versuchen, im September eine Untersuchungskommission im Menschenrechtsrat einzurichten“, kündigt Cécile Roukoz an.
Libanon: Tausende demonstrieren in der Nähe des Hafens von Beirut
In der Zwischenzeit organisieren sich die Familien der Opfer und die Bürger:innen ohne Unterlass gegen das Vergessen: Am vergangenen Freitag, dem dritten jährlichen Gedenktag, demonstrierten Tausende in der Nähe des Hafens von Beirut, forderten Gerechtigkeit und verspotteten die politischen Entscheidungsträger. „Wir waren sogar zahlreicher als im letzten Jahr, das gibt Hoffnung“, sagt Roukoz.
Wie sie versuchen setzen sich viele im Libanon dafür ein, die zahlreichen Krisen im Land zu bewältigen. So zum Beispiel Dutzende von Bürgern in Frankreich, der Schweiz, Deutschland und dem Libanon, die Riad Salamé verklagt haben. Der ehemalige Chef der Zentralbank „war der Hauptverantwortliche für die Gestaltung der Wirtschaft basierend auf einem Ponzi-System, das Verluste in Höhe von über 70 Milliarden US-Dollar hinterließ“, sagt der Politik-Experte Karim Bitar. Als Ponzi-System versteht man einen Finanzbetrug, der Investitionen mit Versprechungen anlockt und wenigen einzelnen Personen hilft, viel Geld zu verdienen. „Sein Pass wurde beschlagnahmt und er darf nicht reisen, aber er wird versuchen, sich mit allen Mitteln der Justiz zu entziehen – so sehr herrscht im Libanon eine Kultur der Straflosigkeit“, warnt Bitar.
Libanon: Politische und wirtschaftliche Klasse spielt mit dem Feuer
Nach 30 Jahren Amtszeit ist die Bilanz von Salamé und der politischen Klasse, die ihn unterstützt hat, katastrophal: eine Inflation von 254 Prozent, eine zu 98 Prozent abgewertete Währung und 82 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze – ganz zu schweigen von den syrischen und palästinensischen Flüchtlingen, die zwischen extremer Diskriminierung und fast völliger Armut in die Enge getrieben werden.
Unterdessen spielt die politische und wirtschaftliche Klasse des Landes weiterhin mit dem Feuer, um ihre Macht zu stärken. Das Land ist seit dem 1. November 2022 ohne Staatspräsidenten, nachdem die Amtszeit von Michel Aoun abgelaufen ist – doch der Ernennungsprozess ist blockiert, da es keine Einigung zwischen den Parteien und ihren geopolitischen Sponsoren gibt, vom Iran über Saudi-Arabien bis hin zu den USA. „Die Geschichte des Libanon zeigt, dass sich die Blockade nur auflöst, wenn diese beiden Ebenen – lokal und regional – gleichzeitig gelöst werden“, sagt Bitar. Doch eine derartige Lösung ist nicht in Sicht.
Foto-Album zum dritten Jahrestag der Hafenexplosion, am 4. August 2023










